"Körperarbeit und Theaterarbeit" ist die
überarbeitete (Zusammen-) Fassung zweier
Vorträge von den Skan-Theaterworkshops 1998 und 1999
in Aix-en-Provence. Diese zwei
Wochen sind unserem Jargon gemäß als
Theater-Workshop" angekündigt, aber alle hier
wissen, in welchem Kontext unsere Theaterarbeit"
steht - natürlich im Kontext unserer
Körperarbeit. Wir sind keine Theaterleute, sondern
Körpertherapeuten. Was wir Theaterarbeit"
nennen, ist für uns eine Form von Körperarbeit
in der Vertikalen. Was es uns jedoch erlaubt,
Körperarbeit und Theaterarbeit in einem Atemzug zu
nennen, ist die Tatsache, daß es
Überschneidungen zwischen beiden Bereichen gibt, die
beträchtlich sind. Daher können wir in der
Körperarbeit gewisse Anleihen beim
Schauspielertraining machen, und vermutlich gilt dies
auch umgekehrt. Man darf sich
Theaterarbeit im Rahmen von Körperarbeit nun aber
nicht als luxurierende Zugabe zum klassischen
körpertherapeutischen Setting in Form von Laienspiel
oder Amateurtheater vorstellen. Theaterarbeit ist
integraler Bestandteil unserer Arbeit und hat hier eine
definierte Funktion: sie dient unserem
körpertherapeutischen Ziel, der
Entpanzerung. Al Bauman sah
die Legitimation von Theaterarbeit im Rahmen der
Körperarbeit (streaming theatre") in der
Notwendigkeit, eine Brücke von der therapeutischen
Situation zur alltäglichen Performance" des
Klienten schlagen zu müssen. Entpanzerung innerhalb
des klassischen körpertherapeutischen Settings
(Matte") führt oft nicht spontan zu einer
kreativeren Lebensweise. Bühnenarbeit in Verbindung
mit Körperarbeit stimuliert unseren inneren
schöpferischen Prozeß und kann uns helfen,
Authentizität und Präsenz von der Bühne
ins Leben zu transferieren.(Laban geht so weit, die dem
Spielen der Kinder und Jungtiere innewohnende Funktion
des Probehandelns" für das Schauspielen der
Erwachsenen zu reklamieren.) Die
großen maßgeblichen Theaterlehrer dieses
Jahrhunderts, vor allem Stanislawski, Checkov, Strasberg
und Grotowski, lassen in ihren Auffassungen eine gewisse
Verwandtschaft zu unseren - Reich geschuldeten -
Konzepten Panzerung und Strömen erkennen. Checkov
z.B. redet davon, daß jeder Schauspieler mehr oder
weniger unter dem Widerstand seines Körpers leidet.
Strasberg sieht die Schwierigkeit des Schauspielers, sich
auszudrücken in konditionierten
Ausdrucksgewohnheiten". Und schon Stanislawski war der
Meinung, daß ...in der Entspannung das ganze
Geheimnis, die ganze Seele des Schöpferischen auf
der Bühne liegt...Alles andere müßte sich
aus diesem Zustand, aus diesem Gefühl
körperlicher Befreiung ergeben". Am
nächsten kommt unseren Auffassungen Grotowski. Er
spricht von der Nutzbarmachung eines
Impulsstrompotentials, eines quasi biologischen Stroms,
der aus dem Innern" kommt und anhand dessen man zu
präzisen Handlungen gelangen kann." Für das
Spiel des Schauspielers strebt Grotowski eine im
Organischen wurzelnde tranceartige Schwerelosigkeit
an. Und Jean-Louis
Barrault schreibt: "So wie die Erde von der
Atmosphäre umgeben ist, ist ein lebender Mensch von
einer magnetischen Aura umgeben, die die Objekte der
Außenwelt berührt, ohne daß eine direkte
Berührung zwischen dem menschlichen Körper und
dem Objekt stattfindet. Diese Aura oder Atmosphäre
ist unterschiedlich stark bei jedem Menschen, sie
entspricht seiner Lebenskraft...Der Schauspieler
muß sich vor allem anderen dieser
immerwährenden Berührung mit den Dingen
bewußt sein. Es gibt keine isolierende Schicht
zwischen ihm und der Außenwelt. Jeder Mensch
verursacht durch seine Bewegungen in dem ihm umgebenden
Raum Wellen, wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt."
(zitiert nach: Keith Johnstone: Improvisation und
Theater, S. 97f.) In diesem Sinne
schreibt Laban: "Vom Schauspieler wird noch mehr
verlangt: Kommunikation mit dem Publikum. Er muß
mit seinem Publikum in Kontakt treten, jene Beziehung
schaffen, die zuvor mit einem zwischen zwei Polen
fließenden Strom verglichen wurde."..."Was wirklich
im Theater passiert, findet nicht allein auf der
Bühne oder im Publikum statt, sondern im
Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen." (Rudolf von
Laban, Die Kunst der Bewegung, Florian Noetzel Verlag,
Wilhelmshaven, 1996) Wir sehen hier
die Verwandtschaft zur Körperarbeit, aber - beim
Weiterlesen - auch eine Naivität in der
Einschätzung der Widerstände des
Körpers" oder der konditionierten
Ausdrucksgewohnheiten" hinsichtlich der Methoden ihrer
Veränderbarkeit. Hier ist man im Prinzip nicht
über konventionelle Entspannungsverfahren
hinausgekommen. An dieser Stelle kann Körpertherapie
für das Schau-spielertraining wichtig werden, denn
unser Instrumentarium der segmentären
Entpanzerungsarbeit, das können wir ohne
Überheblichkeit feststellen, greift tiefer als die
im modernen Schauspielertraining inkorporierten Methoden
der Arbeit am Körper. Nun können
wir aber einen entscheidenden Unterschied nicht
ignorieren: der Klient kommt zur Körperarbeit, weil
er sich minimal Symptomheilung, maximal
Charaktertransformation erhofft. Der Schauspieler
hingegen strebt professionelle Qualifikation an. Auch
wenn beides am Ende konvergieren kann, müssen wir es
zunächst auseinanderhalten, denn Schauspieler sind
per se keine Körpertherapie-Klienten; bei den
Letztgenannten wiederum ist die Entwicklung ihres
kreativen Prozesses am Anfang der Arbeit oft eine
nachgeordnete Frage. Was kann also
Körperarbeit für das Schauspielertraining
leisten, und wie kann Körperarbeit von der
Schauspielkunst inspiriert und bereichert
werden? Zunächst
zum ersten Teil der Frage, die ich hier nur allgemein
behandeln will, denn diese Frage kann eigentlich nur von
den Theater- oder Filmschaffenden selbst beantwortet
werden, die sich mit unserer Körperarbeit praktisch
auseinandersetzen und sie am eigenen Leibe erfahren. Wir
reden natürlich nicht von der Schauspielerei, die
mit Stereotypen, Schablonen und Nachahmung arbeitet und
in der Ausbildung nur auf die Vervollkommnung der
technischen Fertigkeiten abzielt. Uns interessiert allein
die Art von Schauspielerei, die es dem Schauspieler
selbst ermöglicht, zu wachsen, die unsere Seele
berühren kann, die mit wirklichem Empfinden und
nicht mit bloßer Demonstration operiert. Solche
Schauspielkunst ist ständig mit drei Grundproblemen
konfrontiert. Erstens: wie findet der Schauspieler auf
der Bühne Zugang zur Wahrheit in seinem innersten
Kern, Zugang zu den authentischen Empfindungen und
Gefühlen. Zweitens: wie kann er seine
Authentizität auf der Bühne im Kontext seiner
Rolle angemessen zum Ausdruck bringen und drittens: wie
kann er dies alles im Einklang mit dem Spielplan
bewerkstelligen. Wie kann er fünfmal in der Woche
pünktlich ab 20 Uhr die Herzen der Zuschauer durch
sein authentisches Spiel bewegen? Wie kann er
befähigt werden, die gleiche Handlungspartitur in
gleichbleibend lebendiger und präziser Weise
beliebig zu wiederholen? Strasberg
beschreibt in diesem Zusammenhang, wie er als Student
einer außergewöhnlichen Vorstellung eines
großen Schauspielers beiwohnte und tief beeindruckt
und im Innersten bewegt einige Freunde dafür
begeistern konnte, mit ihm in die nächste
Vorstellung zu gehen. Dort mußte er zu seinem
peinlichsten Entsetzen miterleben, wie derselbe
Schauspieler in derselben Rolle nur wenige Tage
später eine indiskutabel schlechte, zerfahrene
Vorstellung gab. Eine
ähnliche Fragestellung haben wir übrigens in
der Körperarbeit. Klienten erleben manchmal
große Öffnungen, spektakuläre
Durchbrüche in der Sitzung - aber die Frage bleibt,
wie man solche besonderen Erfahrungen integrieren kann,
wie sie wiederholbar und alltäglicher gemacht werden
können. Es liegt auf
der Hand, daß Körperarbeit bei der
Arbeit des Schauspielers an sich selbst"
(Stanislawski) bei genau diesen genannten Grundproblemen
nützlich sein kann: wir können Schauspielern
helfen, Sentimentalität, Narzißmus und
Ersatzgefühle zu durchdringen und zu einem
authentischeren, gefühlten Ausdruck zu kommen. Und
wir können dem Schauspieler helfen, ein höheres
innerorgan-ismisches Energieniveau aufzubauen, zu halten
und damit über längere Zeit handlungsfähig
zu bleiben. Für viele
Schauspieler bringt Körperarbeit aber zunächst
Schwierigkeiten mit sich. Schauspieler, die
hauptsächlich Wert auf die Perfektionierung ihrer
technischen Fertigkeiten legen, die sich darauf
beschränken, ihr akkumuliertes Repertoire von
Handlungs- und Ausdrucksvarianten abzurufen, kommen mit
der Körperarbeit schnell an ihre Grenzen, wenn ihre
Kreativität herausgefordert wird. Noch schwieriger
wird es für Schauspieler, die sich daran
gewöhnt haben, ihren Typ zu vermarkten und nicht an
ihrer inneren Verwandlungsfähigkeit gearbeitet
haben, denn ihre oft narzißtische Struktur wird
durch solche Arbeit nicht infrage gestellt, sondern
ausgebeutet und verstärkt. Schauspieler
unterscheiden sich von der normalen Klientenpopulation
auch dadurch, daß sie eine bestimmte
Charakterstruktur überrepräsentieren: meistens
haben wir es, klinisch ausgedrückt, mit sogenannten
hysterischen und rigiden narzißtischen Strukturen
zu tun. Das heißt, diese Menschen verfügen im
Rahmen ihrer Ich-Grenzen oft über eine relativ
große emotionale und physische Beweglichkeit und
kommen erst an der Kontakt-Grenze in Schwierigkeiten,
wenn es gilt, wirklich in Beziehung zu treten. Als
Theaterbesucher merkt man das meistens daran, daß
ein Schauspieler gekonnt spielt, aber dennoch
nichts rüberkommt." Insgesamt ist
die Körperarbeit mit Schauspielern lohnend und
interessant. Arbeit an der Kontaktgrenze ist meistens
lebendig bis dramatisch, und Schauspieler sind wie die
meisten Künstler im Schnitt näher an der
Sehnsucht und an der Wahrheit dran". Erstens. Das
Setting Bühne-Publikum an sich ist für uns
schon ungemein nützlich, denn es bietet alle
Voraussetzungen dafür, daß der gleiche
bio-energetische Prozeß wie bei einer
körpertherapeutischen Sitzung stattfinden kann, bei
der wir im günstigen Fall vier Phasen beobachten
können: Mobilisierung von Energie, Restaurierung des
organismischen Energiekreislaufs, Realisierung der daraus
erwachsenden authentischen Ausdruckstendenz und
In-Beziehung-Treten damit (Ladung aufbauen, Ladung in
Umlauf bringen und halten, eine Ausdrucksform dafür
finden und damit in Beziehung treten). Allein auf der
Bühne vor der Gruppe zu sein, ohne etwas Bestimmtes
tun zu müssen, können wir in der
Körperarbeit als Grundsituation nutzen, in der alle
körpertherapeutischen Variablen wirksam werden. Die
Situation selbst ist meistens erregend: dort zu stehen,
im Zentrum der Aufmerksamkeit, gesehen zu werden und
selbst zu schauen, mobilisiert meistens sehr viel
Erregung, vor allem in der Person auf der Bühne,
aber auch in der Gruppe; es entsteht ein Feld mit enormer
energetischer Ladung. Was als
nächstes meistens ins Bewußtsein tritt, ist
die Struktur der eigenen Panzerung, oft in Form von Scham
und Angst. Zu dieser Struktur gehören auch die
Strategien, die Tricks und Manöver, die man auf
Lager hat, um in solchen Situationen über die Runden
zu kommen. Einige werden albern, agggressiv oder
verführerisch, andere spalten sich von der
energetischen Erfahrung ab, schalten auf Aushalten oder
kompensieren in anderer Weise, usw. Wir ermuntern die
Teilnehmer, auf diese Tricks und Manöver zu
verzichten und sich, so gut sie können, der
Erfahrung zu stellen, die Situation zu fühlen, sich
bewußt in diesem hochgeladenen Feld - Person auf
der Bühne/Publikum - aufzuhalten, auch wenn die Knie
weich werden und die Ohnmacht naht. Diese
Grundsituation kann man variantenreich erweitern:
zunächst ist man allein vor der Gruppe mit der
Vorgabe, nichts zu tun"; dann erhält man
kleine Aufgaben, die auf die jeweilige Person
zugeschnitten herausfordernd sind: kleine Handlungen oder
beliebige Worte/Sätze, die ad hoc zu
präsentieren sind; oder man bekommt einen
Kontrahenten auf die Bühne dazu und dergleichen. Im
Laufe der Zeit (in einer fortlaufenden Gruppe im Schnitt
ca. nach einem halben bis einem Jahr) stellt sich bei den
meisten ein erstaunlicher Gewöhnungseffekt ein: die
ursprüngliche Angst und Beklommenheit verwandelt
sich in Lust und Experimen-tierfreude bei gleichbleibend
hohem Energiepegel. Sie fangen an, es zu genießen,
auf der Bühne zu sein und vor und mit dem Publikum
zu spielen. - Früher dachte ich, daß dies
für Schauspieler eine leichte Übung sein
müßte: allein vor der Gruppe zu stehen und
nichts zu tun. Ich war dann erstaunt, bei Lee Strasberg
zu lesen, daß er exakt die gleiche Übung
für seine Schauspielschüler entwickelt hatte
und diese sich schwer damit taten. Zweitens. Eine
weitere große Anleihe, die wir machen, ist die
Arbeit mit dem sogenannten imaginären Zentrum. Die
entscheidende Fähigkeit von guten Schauspielern wird
oft als die Fähigkeit definiert, auf imaginäre
Stimuli reagieren zu können, und die Arbeit mit der
Imagination nimmt notwendigerweise einen großen
Raum im Schauspielertraining ein. Einen bestimmten Aspekt
davon haben wir uns in der Körperarbeit besonders zu
eigen gemacht: die Arbeit mit dem imaginären
Zentrum. Die Prinzipien
sind recht einfach: wenn man die Aufmerksamkeit auf eine
beliebige Stelle (imaginäres Zentrum) im Körper
richtet, wird diese energetisiert. Verstärkt wird
dies noch, wenn man zu dieser Stelle bewußt
hinfühlt und hinatmet. Man kann das mit jedem
Bereich im Körper machen, z.B. kann man die aus der
Körperarbeit bekannten sieben Segmente auf diese Art
energetisieren, aber auch das Ohrläppchen, die
Fingerspitzen, den 7. Halswirbel oder die linke
Kniescheibe. (Das Zentrum kann auch außerhalb des
festen Körpers innerhalb des Energiefeldes liegen.)
Diese Energetisierung für sich ist nur die
Voraussetzung für das, was uns daran eigentlich
interessiert: wenn man lange genug hinfühlt, stellen
sich an dieser Stelle Bewegungs- und Handlungsimpulse
ein, von denen man oft nicht wußte, daß sie
in einem schlummern. Setzt man diese Impulse um in
Motorik und Gestik und bleibt dabei in fühlendem
Kontakt mit dem jeweiligen imaginären Zentrum,
können Aspekte der Persönlichkeit vital und
dynamisch in den Vordergrund treten, die man sonst kaum
lebt. Je mehr man sich traut, den gefühlten Impulsen
nachzugehen, desto kühner, prägnanter oder
manchmal auch bizarrer erscheinen die Aspekte der
Persönlichkeit, die man dabei zutage fördert
und/oder neu erschafft. Schauspielern
hilft dies natürlich, beliebige Charaktere aus sich
selbst heraus zu erschaffen. In der Körperarbeit
hilft es uns, energetische Fixierungen zu lockern und uns
ein nahezu grenzenloses Experimentierfeld zur Entdeckung
und Erforschung persönlicher Resourcen
verfügbar zu machen. Die meisten unserer Klienten
leiden darunter, daß sie in frustrierende
Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster eingesperrt
sind.Was dem zu einem guten Teil zugrunde liegt, ist die
unbewußte Fixierung der Aufmerksamkeit auf immer
dieselben Aspekte des bodyminds. Die Arbeit mit den
imaginären Zentren hat hier schon manche Türen
und Tore geöffnet. Al Bauman, der
Körperarbeit nach Reich und Schauspielertraining in
kreativer Weise auf einen praktikablen Nenner gebracht
hat, hat hauptsächlich mit diesen imaginären
Zentren gearbeitet, die er pivot points nannte, zu
deutsch Dreh- und Angelpunkte. Drittens. Eine
weitere Anleihe, die wir beim modernen
Schauspielertraining machen, ist die Arbeit mit der
Radiation. Eine fundamentale Wahrheit der
Körperarbeit ist oft schwer zu vermitteln: daß
wir Wesen sind, ausgestattet mit der Fähigkeit, auch
die nuanciertesten Botschaften energetisch zu
kommunizieren, sowohl auszusenden als auch zu empfangen.
Ausbildungskandidaten neigen dazu, sich lieber auf
Techniken und Verfahrensweisen zu stützen und lernen
oft nur mühsam, wenn überhaupt die wichtigste
Lektion, die Fähigkeit zur vegetativen
Identifikation, wie Reich es nannte. In der modernen
Bühnenkunst ist dies schon lange bekannt: Checkov
z.B. beschreibt den Schauspieler ...als eine Art
Zentrum, daß sich beständig in jede
gewünschte Richtung ausdehnt. Mehr noch, der
Schauspieler ist in der Lage, durch die Kraft der
Radiation dem Publikum die feinsten und höchst
subtilen Nuancen seines Spiels und der tieferen Bedeutung
des Textes und der Begebenheiten auf der Bühne zu
vermitteln." Und weiter
schreibt er:"...Diese unbeschreiblichen,
unaussprechlichen Dinge, die der Schauspieler in seiner
Seele ansammelt, während er sich kreativ mit seiner
Rolle auseinandersetzt, werden nur durch die Radiation
übermittelt. Auf diese Weise kann ein kaum
faßbares Ausdrucksmittel zum eindrucksvollsten Teil
der Aufführung beitragen, indem es das Stück,
die Rolle und die Individualität des Schauspielers
dahinter offenbart." Eine typische
Sequenz der Arbeit mit der Radiation, die man über
Stunden oder Tage ausdehnen kann, kann z.B.
folgendermaßen aussehen: Vorübungen
mit Hinsetzen und Aufstehen. Man sitzt auf
dem Fußboden. Bevor man aufsteht, erhebt man sich
in der Imagination, indem man das Feld"
voranschickt (ausstrahlt/"radiiert"), und zwar weit
über die Grenzen des physischen Körpers hinaus,
durch die Decke des Raumes hindurch, durch das Dach des
Gebäudes, endlos hoch in den Himmel. Dann
läßt man den physischen Körper folgen und
hört nicht auf, in der Imagination aufzustehen, auch
wenn der physische Körper seine maximale
Ausstreckung erreicht hat. Dann ruht man einen Moment und
beginnt dann mit der Inversion des Prozesses: man setzt
sich wieder hin. Zunächst in der Vorstellung, dann
mit dem physischen Körper. Wenn man sitzt, schickt
man den Handlungsimpuls, das Sich-Hinsetzen, tiefer und
weiter nach unten, bis zum Erdmittelpunkt und
darüber hinaus. Beides, Aufstehen und Hinsetzen,
wird in dieser Weise mehrmals wiederholt; zunächst
langsam dann schneller und schließlich so schnell,
wie man in fühlender Bewußtheit damit bleiben
kann. Nächste
Schritte: - Einfache
Bewegungen durch den Raum. Vor jeder physischen
Bewegungshandlung wird das Feld/der Bewegungsimpuls genau
wie zuvor beim Aufstehen/Hinsetzen
vorangeschickt. - Einfache
imaginäre Handlungen in der gleichen
Weise. - Einfache,
konkrete Handlungen in der gleichen Weise. Einen
Gegenstand in die Hand nehmen, etwas vom Boden aufheben,
indem man das Feld voranschickt, den Handlungsimpuls zum
Gegenstand hin ausstrahlen, bevor man die Handlung
ausführt. - Einfache,
konkrete Begegnungen mit anderen Personen im Raum;
Blickkontakt und einfache Berührungen; wobei beide
den Impuls voranschicken (ausstrahlen) und die
energetische Überlagerung erlauben. - Begegnungen
von jeweils zwei Personen im Raum, Aussenden des
Gesamtenergiefeldes und der speziellen, auf den Partner
bezogenen, zu kommunizierenden Botschaften. Dabei
Mindestabstand von einem Meter, danach die Distanz
vergrößern, solange man den energetischen
Kontakt halten kann. Letzter
Schritt: Raus in die Natur, Kommunikation in der
beschriebenen und eingeübten Weise mit Pflanzen,
Bäumen, Tieren... Eine solche
Übungssequenz, wiederholt mit Konzentration,
Bewußtheit und Mut zur Begegnung ausgeführt,
kann sich transformierend und heilsam auswirken und
denjenigen, für die Begriffe wie Energiefeld",
Aura" etc. zuvor nur leere Metaphern waren, einige
Ahas" bescheren. Die im
Schauspielertraining entwickelten Instrumente zur Arbeit
mit dem imaginären Zentrum und der Radiation
korrespondieren direkt mit zwei wichtigen Arbeitsfeldern
der Körperarbeit: der Freisetzung der
Energiezirkulation im Organismus und der Arbeit an der
pulsatorischen Ausdehnung des Energiefeldes; die
entsprechenden Instrumente, die hierbei im
Schauspielertraining eingesetzt werden, können
für die Körperarbeit ohne weiteres
übernommen werden. Es gibt noch
andere Anleihen, die wir beim Schau-spielertraining
machen können; z.B. Grotowskis
Hand-lungspartituren" oder Checkovs
Psychologische Geste", auf die wir vielleicht
später zurückkommen. Damit sind einige
wesentliche Punkte genannt, an denen Körperarbeit
und Theaterarbeit Hand in Hand gehen und sich gegenseitig
inspirieren und weiterbringen können. Abschließend:
keine Theaterarbeit ohne Aufführung. Dies gilt auch
für Theaterarbeit, die im Kontext von
Körperarbeit stattfindet, wobei unsere
Aufführungen nur in geringem Maße
öffentlich und meistens gruppenintern sind.
Natürlich müssen wir uns bei der Vorbereitung
und Erarbeitung einer Aufführung von anderen
Kriterien leiten lassen, als dies im normalen
Theaterbetrieb der Fall ist. Unser leitendes Interesse
kann es nicht in erster Linie sein, eine ästhetisch
anspruchsvolle Aufführung nach allen Regeln der
Kunst zu erarbeiten. Unsere übergeordnete
Leitlinie/Fragestellung muß lauten: Welche Aufgabe
auf der Bühne wäre für die jeweilige
Person eine Herausforderung, an deren Bewältigung
sie wachsen kann? Dabei kann es passieren, daß am
Ende überhaupt keine Aufführung zustande kommt.
Wenn jedoch alle im Spiel ihre persönlichen Grenzen
transzendieren können, hat dies natürlich auch
Auswirkungen auf die ästhetische Qualität der
Aufführung, und die besondere Atmospäre von
Theater" stellt sich ein. Neulich haben wir ein
schönes Kompliment gehört: eine Teilnehmerin
hat ein Video von einer Abschlußperformance zwei
Freunden gezeigt, die professionell im Theaterbetrieb
tätig sind. Diese äußerten sich
beeindruckt davon, welche Präsenz und
Intensität das Spiel einiger der Laien"
ausstrahlte. Es liegt auf
der Hand, daß sich bei unserer Ausgangsfrage
Welche Aufgabe auf der Bühne wäre
für die jeweilige Person eine Herausforderung, an
deren Bewältigung sie wachsen kann?" die
unterschiedlichsten Projekte ergeben. Für einige ist
es die absolute Herausforderung, vor dreißig Leuten
auf die Bühne zu kommen und Hallo" zu sagen,
andere brauchen eine richtige" Rolle. Dies gilt
auch für Profi-Schauspieler, die zu uns kommen. Auch
hier ist unsere Leitlinie: was wäre für so
jemanden auf der Bühne ein fruchtbares (und manchmal
furchtbares) Risiko? Für einen
solchen Theaterworkshop gibt es verschiedene sinnvolle
Settings. In den letzten fünf Jahren haben wir so
gearbeitet, daß nur Teilnehmer zugelassen wurden,
die mit unserer Arbeit vertraut sind. Zu Beginn des
Workshops, der zwei Wochen dauert, erhalten alle einen
Rollenvorschlag; meistens im Rahmen eines konkreten
Mehrpersonen-Stücks, aber auch Einzelauftritte. Da
wir die Teilnehmer gut kennen, können wir die Rollen
vorher so aussuchen, daß sie (hoffentlich) eine
persönliche Herausforderung darstellen. Bis zur
Abschluß-Performance haben wir dann knapp zwei
Wochen Zeit. Wegen der Kürze der Zeit kommen nur
Stücke oder Texte infrage, die in zwei Wochen
ausreichend erarbeitet und verkörpert werden
können. Wir nehmen also entweder relativ kurze
Einakter oder fraktionieren längere Stücke. So
hatten wir in den letzten beiden Jahren u.a. Sartres
Geschlossene Gesellschaft und Tschechows Der Bär im
Programm. Beide Stücke teilten wir in drei
Abschnitte, wobei im Sarte-Stück der Kellner und im
Bär" der Diener jeweils durchspielten und die
anderen Rollen dreifach besetzt wurden. Die
Gesamtgruppe von ca. 30 Teilnehmern bleibt für
bestimmte Arbeitseinheiten (Movements, Atemsessions,
Gruppenimprovisationen etc.) als Großgruppe
zusammen, teilt sich jedoch für die Erarbeitung der
Performance mit jeweils einem Trainer / einer Trainerin
in zwei Hälften. Arbeit mit der Gruppendynamik und
klassische Körperarbeit (Matte) finden (neben der
Rollenarbeit) ebenfalls im Rahmen dieser Sub-Ensembles
statt - soweit sie der Erarbeitung der Aufführung
dienen. Literatur Konstantin
Stanislawski: -Die Arbeit des
Schauspielers an der Rolle -Die Arbeit des
Schauspielers an sich selbst -Mein Leben in der
Kunst (Henschel Verlag
Berlin) Stanislawski Lesebuch von
Peter Simhandi (edition sigma) Lee Strasberg: - Ein Traum der
Leidenschaft (Schirmer/Mosel) - Schauspielen & das
Training des Schauspielers (Alexander Verlag
Berlin) Michael Tschechow
(Michael Chekov) - Werkgeheimnisse der
Schauspielkunsr (Werner Classen,
Zürich+Stuttgart) - Lessons for the
Professional Actor (Performing Art Journal Publications,
N.Y.) - On the Technique of
Acting (Harper Perennial) Jerzy
Grotowski: - Für ein armes
Theater (Alexander Verlag Berlin) - Von der Theatertruppe
zur Kunst als Fahrzeug (in: Richards, s.u.) Thomas
Richards: - Theaterarbeit mit
Grotowski an physischen Handlungen (Alexander Verlag
Berlin) Rudolf von Laban, Die
Kunst der Bewegung, Florian Noetzel Verlag,
Wilhelmshaven, 1996 Keith Johnstone:
Improvisation und Theater, Alexander-Verlag,
Berlin
Nun aber zum
zweiten Teil der Frage, zu dem was uns hier eigentlich
interessiert: wie können wir in der
Körperarbeit von der Schauspielkunst lernen? Ich
möchte drei Aspekte hervorheben.