Historie 2
Mission impossible in Aix
(aus: Loil Neidhöfer, Martin Neidhart, Petra Mathes: Von Reich bis Gottweißwohin, Gespräche über Skan und Streaming Theatre, endless sky publications, 2006)
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Martin Neidhart: Zurück zu Aix. Wer dort war, hat bei der Rückkehr einiges zu erzählen. Was hast Du erzählt, wenn du zurückkamst? Was waren deine persönlichen Highlights als Teilnehmer in Aix?
Loil Neidhöfer: Ich habe dort ein paar Feuertaufen erlebt, die ich nie vergessen werde. 1987 war ich zum letzten Mal als Teilnehmer dort. Ich hatte bis dahin – abgesehen von kleineren Improvisationen – nie auf der Bühne gestanden. Besser gesagt: ich hatte es immer verstanden, mich um längere performances herumzudrücken, weil ich Angst davor hatte. Diesmal hatte ich keine Chance. Al Bauman drückte mir und einem anderen ein halbstündiges Zwei-Personen-Stück mit reichlich Text auf, während alle anderen nur kurze Mini-Dramen bekamen. Es war ein gräßliches sentimentales Stück: der eine, ein Verrücktgewordener, hockt seit dreißig Jahren vor einem Bergwerk und wartet immer noch auf seinen Vater, der dort damals tödlich verunglückt war. Der andere, ein Freund – das war meine Rolle – kommt jeden Abend zu ihm hoch und versucht ihm sein Warten auszureden. Wir fingen an. Die Proben liefen nebenher, denn es war kein spezieller Theater-Workshop. Wir lernten den Text und trafen uns abends in der Werkstatt für die Proben. Ich bekam nichts auf die Reihe. Mein Mitspieler auch nicht. Es schien mir alles ein einziges linkisches Gestümpere zu sein. Al kam gelegentlich und dann immer öfter vorbei. Er merkte, wie wir schwammen und griff uns kräftig unter die Arme. Nach zehn Tagen war es soweit: der Tag der Aufführung. Ich kämpfte noch immer mit dem langen Text und hatte wirklich keine Ahnung, wie wir dieses Stück anders als hölzern und dilettantisch auf die Bühne bringen sollten. Zwischendurch hatte ich ernsthaft erwogen, einfach abzureisen. Wieso mußte ich mir das antun? Ich muß doch nicht hier in der heißesten Jahreszeit in Südfrankreich in einem versifften Theatersaal blablabla. Ich mußte. Es waren ein paar Gruppen vor uns dran. Unser Stück war mit Abstand das längste und kam folglich als letztes dran. Der Saal war gerammelt voll. Workshopteilnehmer, Staff, dazu auch noch überflüssigerweise diverse Gäste, die eingeladen worden waren und erwartungsvoll dreinblickten. Die katastrophale Blamage war unausweichlich. In meiner Not griff ich zu ein paar Tricks. Das erste Wort in meinem ersten Satz begann mit einem E. Ich weiß nicht mehr, was für ein Wort das war, aber es begann mit einem E, und dann folgte eine bestimmte Kombination von Buchstaben, die ich bei den Proben immer nur krächzend und schlapp herausbekommen hatte. Ich wußte: wenn ich so beginne, kann ich mir den Rest gleich schenken. Ich hatte versucht, Al für eine Textumstellung zu gewinnen. Keine Chance. Er bestand diktatorisch auf Texttreue. Also beschloß ich in meiner Not, bei der Aufführung den Text einfach so zu verändern, daß mir der Anfang leichter fiel. Ich setzte das Wörtchen „das“ an den Anfang, das ich einfach nur aus meinem Mund hinausstoßen mußte. Für den Rest half nur noch Beten und der andere Trick: ich beschloß, nur für Petra zu spielen. Wir verabredeten, daß sie in der ersten Reihe sitzen sollte, am besten mitten in der Mitte, was ihr auch gelang. Weiterhin beschloß ich, noch für jemanden zu spielen. Für Al. Er hatte sich bei den Proben so sehr engagiert und uns – die wir offensichtlich am Verzweifeln waren – mit kleinen dezenten Hinweisen Mut gemacht und uns nebenher noch was beigebracht. Ich wollte ihn keinesfalls mit einer miserablen Vorstellung enttäuschen. Also beschloß ich, nur für Al und für Petra zu spielen und mein Bestes zu geben, was immer das sein sollte.
Ich habe übrigens noch ein Foto vom Beginn des Stückes. Ich steh vorne an der Rampe wie der zornige junge Wilde persönlich, aber innerlich war ich halbtot vor Aufregung und nur damit beschäftigt, ob und wie ich wohl den ersten Satz und das erste Wort herausbekommen würde. Es ging los. Ich stieß das unerlaubte Wörtchen aus – und an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war ein einziger unverhofft über uns kommender Spielrausch, der meinen Partner und mich erfaßte. Gegen Ende wußte ich nicht, ob wir nach irgendeinem Kriterium irgendetwas Ansehnliches zuwege gebracht hatten. Ich sprach den letzten Satz, es gab noch eine letzte Geste am Schluß, die zum Stück gehörte. Schließlich standen wir vom Fußboden auf, auf dem wir gelandet waren, und verbeugten uns. Und dann geschah etwas, mit dem ich wirklich nicht gerechnet hatte. Nach zwei drei Sekunden atemloser Stille brach ein Orkan von Beifall und Geschrei los. Ich sah zu meiner Verwunderung Leute, denen die Tränen nur so runterliefen. Michael Smith, der immer gerne behäbig herumsaß, war von seinem Stuhl aufgesprungen und applaudierte wie verrückt, während er irgendetwas schrie. Alles andere verschwamm in einem schwindelerregenden Getöse. Als alles vorbei war, kam Al zu mir und sagte „Very good“. Ich war damals noch nicht so nah befreundet mit ihm wie später, sondern hatte einen relativ distanzierten Schüler-Lehrer-Kontakt zu ihm. Aber ich kannte ihn schon gut genug, um zu wissen, daß ein „very good“ von ihm so etwas wie die höchste Auszeichnung war, die er an Trainees zu vergeben hatte.
Es nimmt mich immer noch mit, wenn ich daran denke. Abgesehen davon, daß ich eine mission impossible bewältigt hatte, gab es dabei noch etwas anderes, das mindestens genau so wichtig war: am eigenen Leibe zu erleben, wie man eine Aufgabenstellung so sehr zuspitzt, daß sie zur maximalen Anforderung wird, ohne zur Überforderung zu werden, und somit dem Betreffenden ermöglicht, über sich hinaus zu wachsen. Al war ein Meister darin, solche Aufgaben zu stellen und auf ihrer Ausführung zu bestehen, ohne sich von all dem Ich-kann-nicht und Es-geht-nicht beeindrucken zu lassen.